Empörung
Es ist die historische Aufgabe des menschlichen Bewusstseins, die Misere der egomanischen Willkür grundlegend zu überwinden. Jeder Mensch hat genug bittere, groteske Willkür erlebt und beobachtet, um ein gewisses Bewusstsein dafür zu entwickeln – oder zu allermindest um etwas zu erahnen, wenn jemand davon spricht oder schreibt.
Wegweisend kann für uns Stéphane Hessel sein. Er war vor 1945 in Frankreich in der Résistance, 1948 ein Vorbereiter und Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte. 2010, im Alter von 93 Jahren, erneuerte er einen Appell, der aus der bitteren Erfahrung des II. Weltkrieges heraus visionäre Gestalt angenommen hatte: „Empört Euch!"
1945, als das grauenhafte Drama beendet war, setzten die im Nationalen Widerstandsrat vereinigten Kräfte eine Erneuerung ohnegleichen ins Werk. Damals wurde das System der sozialen Sicherheit geschaffen, wie es die Résistance in ihrem Programm vorgestellt hatte: ‚Ein vollständiger Plan sozialer Sicherheit mit dem Ziel, allen Bürgern, denen dies nicht durch eigene Arbeit möglich ist, die Existenzgrundlage zu gewährleisten’; ‚ein Ruhestand, der den Arbeitnehmern ein Alter in Würde gestattet.’ Die Energieversorgung, Strom und Gas, der Kohlebergbau, die Großbanken sollten verstaatlicht werden. ...
Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privatisierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.