von Philipp Sonntag | Schriftsteller
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Gewohnheitsrecht

Schlechte Gewohnheiten haben Kafka besonders aufgeregt. Unfälle waren sein Fachgebiet. Bei der Unfallverhütung hat er Schwachpunkte gesehen. Ebenso nach einem Unfall,  denn die Verursacher versuchten zumeist mit Geschick und Dreistigkeit den Schadensersatz zu begrenzen. Wer vor Gericht routinierte Juristen bezahlen kann, die dem Prozessgegner nicht zur Verfügung stehen, für den werden Urteile zu seinen Gunsten zur Gewohnheit – er wird sich schließlich in Form von Gewohnheitsrecht jegliche Skrupel abgewöhnen. Rücksichtsloses, professionell gesetzwidriges Verhalten kann zur Gewohnheit, schließlich de facto (nicht de jure) zu einem Gewohnheitsrecht werden.

Es gibt gute Gewohnheiten. Sie beruhen meist mehr auf dem Charakter von freundlichen Menschen, als auf durchgefochtenem Recht. Für schlechte, kommerziell bis egomanisch geprägte Gewohnheiten wird der gewiefte Kriminelle ebenfalls jeglichen juristischen Streit vermeiden.
Dann ist nicht das „geltende" Recht, sondern ein wirksames entscheidend: Wünschenswert wäre, dass die egomanische Willkür aufhören würde. Aber juristisch ist da kaum etwas zu machen, denn es gibt eben dieses eine „Recht", welches wie ein Recht wirkt und jegliches andere Recht seit Jahrtausenden praktisch wirksam außer Kraft setzen kann, indem es die eigentlich gültige Rechtspraxis verhindert:
das Gewohnheitsrecht.  

Gemäß http://de.wikipedia.org/wiki/Gewohnheitsrecht gilt:
Das Gewohnheitsrecht ist ungeschriebenes Recht, das nicht durch Gesetzgebung zustande kommt, sondern durch eine andauernde Anwendung von Rechtsvorstellungen oder Regeln, die von den Beteiligten als verbindlich akzeptiert worden sind. Das Gewohnheitsrecht ist im Allgemeinen gleichberechtigt mit Gesetzen. ...
Gewohnheitsrecht entsteht – vereinfacht dargestellt – nicht durch ein förmliches Rechtssetzungsverfahren, sondern durch längerdauernde, stetige, allgemeine und gleichmäßige Übung ... die von den Beteiligten als rechtsverbindlich anerkannt wird .... Gewohnheitsrecht leitet sich also nicht vom geschriebenen Recht ab, sondern tritt als dessen Konkurrent auf. Fehlt die opinio iuris, handelt es sich um eine bloße Gewohnheit, die allein kein Recht schaffen kann. Rechtmäßig gebildetes Gewohnheitsrecht steht dabei dem geschriebenen Recht grundsätzlich gleich, es sei denn, die Rechtsordnung verlangt ausdrücklich nach einer geschriebenen Regelung. ...

Neuerdings wird aber vereinzelt ein fließender Übergang von rechtsfortbildenden Einzelfallentscheidungen (also Richterrecht) über die ständige Rechtsprechung (also wenn ein oberstes Gericht eine Rechtsauffassung dauerhaft vertritt) hin zum Gewohnheitsrecht angenommen.
Auf der Grundlage dieses Gewohnheitsrechts haben Menschen viele gute und schlechte Gewohnheiten. Dieses Recht kann einen praktischen Wert haben, soweit es als eine „Art von Dienst nach Vorschrift im eigenen Interesse" einen gesellschaftlich fairen Konsens erlaubt. Egal ob schädlich oder nicht, das Gewohnheitsrecht funktioniert in der Praxis weitgehend störungsfrei.  Es sollte mit dem fürs Kafkaeske geschulten Blick besser beobachtet und schließlich gesellschaftlich kontrolliert werden. Derzeit brauchen Machthaber ihre etablierten, mit Macht gestützten Gewohnheiten nur im Ausnahmefall „rechtlich" durchzusetzen.
Kann es da überhaupt einen Staat geben, den man pauschal als Rechtsstaat oder als Unrechtsstaat bezeichnen würde? Idealtypisch gilt „im Prinzip" ja, aber beide würden sofort durch etliche Gewohnheitsrechte stark verändert.

In Diktaturen kann erstaunlich sein, was alles keiner sagen darf, obwohl es jeder sieht. In Demokratien und vielleicht anderen Staatsformen, ist ebenso erstaunlich, was alles man sagen, berichten, belegen kann – aber nichts geschieht. Die Machthaber in (fast) jeglichen Staatsformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich zumindest vorübergehend jeglicher Verantwortung entziehen können. Ein Gewohnheitsrecht schützt sie. In vielen Fällen müssen sie sich nicht mal die Mühe machen, eine Deutungshoheit einzurichten.
Sobald schlechte Gewohnheiten zu erkennbar gefahrlos nutzbaren  Gewohnheitsrechten werden, steigt die Zahl der Nutzer. Kontrolle würde dem Staat viel Geld einbringen. Die Gewohnheit des zuständigen Verwalters ist in der Regel jedoch, jegliche neue Kosten zu vermeiden. Unterwerfen sich etwa im Gesundheitswesen die Krankenkassen mit gewohnter Trägheit den kriminell aufgebauten Gewohnheitsrechten, auch wenn es ihnen und der Gesellschaft massiv schadet?

Im Prinzip ja, und zwar systematisch.
„Der Schaden ist gespenstisch hoch. Durch Korruption, Betrug und Falschabrechnung gehen Jahr für Jahr drei bis zehn Prozent der Gesundheitsausgaben verloren, schätzen die Experten des European Healthcare Fraud and Corruption Network." Und „Genaue Zahlen dazu, wie oft im deutschen Gesundheitswesen bestochen, betrogen und falsch abgerechnet wird, gibt es nicht. ‚Je mehr man sucht, desto mehr findet man’". Die Gewohnheiten bei der Prüfung von Abrechnungen der Kliniken legen kriminelles Verhalten offen – 43 % der Rechnungen erwiesen sich als zu hoch – aber es schadet kaum: „Finden die zur Prüfung verpflichteten Kassen keinen Fehler, so müssen sie die Kliniken mit 300 Euro entschädigen. Bei entdeckten Fehlern haben Kliniken außer der Nachzahlung nichts zu befürchten – es sei denn, es lässt sich systematischer Betrug nachweisen."
Da wird den Kliniken amtlich ein – de facto gesetzwidriges – Gewohnheitsrecht zum routinemäßigen Betrug gewährt.

Bei Politikern kann das Gewohnheitsrecht  besonders wirkungsvoll verinnerlicht werden. So war nach der Wende zunächst Gewohnheit, die DDR des Dopings von Sportlern anzuklagen. Als aber ein grundsätzlich ähnliches Verhalten bei der BRD nachgewiesen wurde, erklärte der Bundesinnenminister plötzlich, dass „in den 60er Jahren Doping nicht verboten" gewesen sei, somit das Dopingverbot des Deutschen Sportbundes von 1953 ignorierend.

Im Film „Der Pate" gelingt es dem tüchtigen Hausjuristen der Mafia, zunächst jeglichen Schaden für die kriminelle Gruppe gewohnheitsgemäß zu beschränken. Er lebte gut davon. Sein Tun war für ihn bald zur Gewohnheit geworden. Verdrängung gehört dazu: Als er mal nicht so effektiv war, wurde von seiner Gruppe prompt mafioses Gewohnheitsrecht angewandt, er wurde ermordet – und zeigte in diesem Moment eine hektische, unprofessionelle Verblüffung.

Effektiver, und vermutlich freundlicher zu ihren Juristen, ist die Pharmaindustrie. Sie hat schon eigene Experten kostenlos ins Bundesgesundheitsministerium ausgeliehen, damit sie bei Gesetzesentwürfen nachhelfen. So entsteht ein unschlagbares Gewohnheitsrecht – bis eines Tages der kafkaesk geschulte Blick breiter üblich wird, und die Willkür beendet.

Im amerikanischen Klassifikationssystem DSM (Diagnostic and Statistical Manual; es wird von Experten festgelegt, um Diagnosen reproduzierbar zu gestalten) werden laufend neue Anzeichen bestimmter Krankheiten frei erfunden und so neue Vorschriften – die bei genauer Betrachtung rechtswidrig sind – durch Handaufheben beschlossen, vor allem durch die amerikanische Psychiatervereinigung APA. Sie gelten als „die Experten", niemand erhebt Einspruch. Das schafft laufend neue Einnahmequellen und schadet, ja quält Millionen von eigentlich normalen, gesunden Patienten durch falsche, unnötige und teure Behandlung enorm. Das Bundesverfassungsgericht hat an Hand des Falles Gustl Mollath Usancen des lang und breit ausgeübten Gewohnheitsrechtes (Personen gesetzwidrig zu psychiatrisieren und mit „Gutachten" wehrlos zu machen) kritisiert.

In der Pharmabranche kann so im Bereich der medizinischen Behandlung eine grundsätzlich nachweisbare Willkür gegen praktisch die gesamte Bevölkerung im „Rechtsstaat" über Jahrzehnte hinweg aufrecht erhalten werden. Bereits 1975 hatte Ivan Illich das Phänomen für jeden verständlich dargestellt:
„Die etablierte Medizin hat sich zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit entwickelt. Die lähmenden Folgen einer von professionellen Standesorganisationen ausgeübten Kontrolle über das Gesundheitswesen erreichen mittlerweile die Ausmaße einer Epidemie. Der Name dieser neuen Epidemie ist Iatrogenesis ..." (S. 9). „Ein professionelles, auf die Person des Arztes abgestelltes Gesundheitssystem, das sich über gewisse Grenzen hinaus entwickelt hat, macht aus drei Gründen die Menschen krank: es produziert zwangsläufig klinische Schäden, die schwerwiegender sind, als sein potentieller Nutzen; es kann die politischen Verhältnisse, die die Gesellschaft krank machen, nur begünstigen – auch wenn es sie zu verschleiern sucht; und es nimmt dem Einzelnen die Fähigkeit, selbst zu gesunden und seine Umwelt zu gestalten." (S. 15). „Ich werde beweisen, dass der Anspruch der Ärzte, sie allein seien qualifiziert, die Medizin selbst zu kurieren, auf einer Illusion basiert." (S. 12).

So wird drastische Willkür etabliert und effektiv. Die Folge, eine „Chronische Linderung von Symptomen" ist teuer. Dies geschieht wegen Unwilligkeit und Unfähigkeit der Politiker, eine Infrastruktur vor der Interessenpolitik zu beschützen. Es ist wie bei den Banken, bei der Bahn, bei der ehemaligen Post: Was eigentlich eine gute Infrastruktur sein sollte, wird zum modernen Raubrittertum, etabliert und zementiert in einer Lobbykratie.

Selbst ein „vernünftiger, zivilisierter" Bürger kann dagegen einen ganz natürlich aggressiven Reflex haben, bis hin zum Verständnis für „Edelterroristen". Aber Willkür und Gewalt lösen das Problem nicht. Die Etablierung einer auf ethische Ziele orientierten Gesellschaft erfordert eine hohe Bewusstseinsstufe.

Dass man reflexartig unreflektiert mit drastischen Maßnahmen antworten kann, führt uns China vor, kurz gefasst:
Hohe Kommunalbeamte wurden hingerichtet: Xu Maiyong missbrauchte sein Amt als Vizebürgermeister von Hangzhou, um Firmen und Einzelpersonen Grundstücke, Beförderungen und Steuervorteile zu verschaffen. Er nahm Bestechungsgelder in Höhe von ca. 15,5 Mio. Euro an und veruntreute über 5,7 Mio. Euro von staatlichen Baufirmen. Sein Amtskollege in Suzhou, Jiang Renjie, nahm von Immobilienfirmen über 11,5 Mio. Euro Bestechungsgelder. Beide wurden zum Tode verurteilt und am 19. Juli 2011 hingerichtet.
Auch das ist in gewisser Weise Rechtsstaat, aber eine Form, die China –  eine der ältesten Zivilisationen – baldmöglichst überwinden sollte, und dies nicht nur weil die drastischen Maßnahmen keineswegs zum breiten Erfolg geführt haben. Es gibt inzwischen in China Millionäre aus Gewohnheitsrecht. Sporadisches Strafrecht ist kein Mittel gegen Korruption und ähnliche Gewohnheitsrechte. Die Herausforderung: Würden Finanzwesen, Ökologie usw. vom Staat effektiv als schützenswerte Infrastruktur kontrolliert, so wäre dies vorbildlich.
Grundsätzlich haben (fast alle) Firmen, hat (fast) jeder Mensch ein Bewusstsein für richtig und falsch. Es könnte jede Willkür ausgemerzt werden, sobald eine Soziologie mit Kafka den politischen Blick auf den Charakter von Willkür weit stärker als bisher öffnet. Bei Einführung von wirksamen Strafen und markantem Imageverlust würden sich Bestechungen, faule Kompromisse usw.  nicht mehr lohnen, die Willkür würde beseitigt. Im Zuge der Einschränkung schlechter Gewohnheiten könnten alle gut versorgt werden und Bestechungen würden noch weniger nahe liegen. Technisch und wirtschaftlich ist es längst machbar – die sozialen Begleitumstände veranschaulichen am besten Rückblicke aus erfolgreichen Utopien – welche dieses Glossar ergänzen.

Die eigenen schlechten Gewohnheiten zu überwinden, gehört bei Einzelnen wie bei Gruppen zu den größten Herausforderungen, aber es wäre machbar.

@ Philipp Sonntag 2024
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